Themen

Decolonize Society – Fight Racism

Eine post- und dekoloniale Erinnerungskultur und Erinnerungspraxis umfasst eine große Bandbreite an Themenfeldern. Auf dieser Seite stellen wir eine Auswahl vor, die auch für unsere Arbeit in Leipzig relevant ist. Die Beiträge werden fortlaufend ergänzt. Wir laden herzlich dazu ein, uns Hinweise, Informationen, Quellen oder fertige Beiträge zu postkolonialen Themen mit Bezug zu Leipzig zu senden.

Wir setzen uns als Leipzig Postkolonial für eine offene Debatte zur Aufarbeitung des Kolonialismus für eine dekolonisierte Erinnerungskultur und -politik der Stadt Leipzig ein. Diese soll vielfältige zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Institutionen, Formate und Aktionsformen einschließen, in denen die von Rassismus betroffenen Personen eine starke Stimme haben. Wir betrachten die Kolonialgeschichte nicht als abgeschlossenes Kapitel der Vergangenheit, sondern setzen uns kritisch damit auseinander, wie koloniale Ideen und Praktiken auch lange nach dem formellen Ende des deutschen Kolonialismus nachwirken. So setzen wir die historische Arbeit in Bezug zu aktuell relevanten Themen wie Straßenumbenennungen, die Aufarbeitung des deutschen Genozids an den Ovaherero und Nama (Namibia), Forderungen nach Restitution und Repatriierung geraubter Objekte und die Thematisierung und Bekämpfung von Rassismus.


Restitution und Repatriierung

Während der Kolonialzeit wurden Kulturgüter, zum Beispiel Gegenstände des täglichen Gebrauchs, Kunstgegenstände oder religiöse Gegenstände, sowie Körperteile von verstorbenen Menschen oft unter Anwendung von Gewalt geraubt und nach Europa verschickt. Dort wurden sie hauptsächlich zur Beschreibung der kolonial unterdrückten Gesellschaften genutzt, da die Europäer*innen deren kulturellen Traditionen durch die Kolonisierung gefährdet wussten. Geraubte menschliche Überreste wurden objektiviert und vor allem für die sogenannte ‘Rassenforschung’ genutzt, die eine vermeintlich biologische Überlegenheit von Europäer*innen belegen sollte.

Restitution und Restituierung beschreiben Rückgabeprozesse. Schon lange fordern Herkunftsgesellschaften geraubte Gegenstände und Gebeine zurück, vor allem in der jüngeren Vergangenheit wurden zunehmend Rückgabeforderungen gestellt. Da ehemalige Kolonialmächte und Institutionen im Besitz von sogenannten kolonialen Sammlungsgütern bis vor wenigen Jahren kaum Bereitschaft zur Restitution zeigten, wurden Herkunftsgesellschaften im Restitutionsprozess vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Fehlende internationale rechtliche Vorgaben und Streitigkeiten über die rechtmäßigen juristischen und moralischen Besitzansprüche, sowie mangelnde Kenntnisse zur Provenienz (Identifizierung, Herkunft, Weg des ‘Erwerbs’) von Kulturgütern sind hierbei einige Beispiele.

Im Leipziger Grassi Museum wurden beispielsweise im November 2019 Gebeine von 45 Menschen an drei australische Communities zurückgegeben. Dabei wurde besonders großen Wert auf den rehumanisierenden Umgang mit den Gebeinen gelegt, der u. a. in einer spirituellen Zeremonie zur Repatriierung der verstorbenen Ahnen ihren Ausdruck fand. Einerseits geht es im Restitutionsprozess somit darum, dass ehemalige Kolonialmächte und deren Institutionen ihre eigene Kolonialvergangenheit und die von ihnen verübte Kolonialgewalt hinterfragen und ihre Schuld anerkennen. Andererseits geht es darum, die vom kolonialen Unrecht betroffenen Gemeinschaften gegebenenfalls finanziell zu entschädigen.


Rassismus

„Race doesn’t exist, but it does kill people.” (Colette Guillaumin)

Rassismus bildete die Grundlage für die von Europa ausgehende Versklavung und den Kolonialismus. Diese Ideologie ermöglichte es, dass Menschen außerhalb des Menschlichen gesehen und gedacht wurden. Ebendiese Entmenschlichung legitimierte und legitimiert immer noch die physische, psychische, strukturelle und individuelle Gewalt gegenüber großen Teilen der Weltbevölkerung.

Rassismus ist nach Susan Arndt eine „europäische Denktradition und Ideologie, die ‚Rassen‘ erfand, um die weiße ‚Rasse‘ […] als vermeintlich naturgegebene Norm zu positionieren, eigene Ansprüche auf Herrschaft, Macht und Privilegien zu legitimieren und sie zu sichern“. Während in Europa im Zuge der Aufklärung die Menschenrechte ausgerufen wurden, galten diese jedoch nicht für die gesamte Menschheit. Gleichzeitig diente die rassistische Wissensproduktion europäischer Gelehrter dazu, die gewaltsame Landnahme unter dem Mantel von ‘Modernisierung- und Zivilisierungsmission’ zu rechtfertigen. Die Verharmlosung der Kolonialgeschichte in Europa einschließlich in Deutschland und die lange Zeit nicht stattfindende öffentliche Aufarbeitung haben kolonialgeprägte Herrschaftsstrukturen bis in die heutige Zeit verstetigt.

Rassismus ist historisch und strukturell in unserer Gesellschaft verankert und wirkt in unterschiedlichen Ausprägungen bis heute fort – etwa in Form des kulturellen Rassismus. Aus diesem Grund muss Rassismus keine individuelle Entscheidung oder persönliche Einstellung sein, sondern er existiert als institutionalisiertes System von wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturellen Beziehungen. In diesem System werden weiße Menschen und ihre Interessen konsequent bevorzugt. Es bedarf keiner Intention der handelnden Person, um eine rassistische Äußerung oder Handlung auszuüben. Oftmals werden rassistische Denkmuster unbewusst in unserem Alltag reproduziert.

Es ist Teil des weißen Privilegs, sich nicht mit Rassismus auseinanderzusetzen zu müssen. Doch auch das Nicht-Wahrnehmen ist ein aktiver Prozess des Verleugnens, der den Fortbestand rassistischer Strukturen sichert. Da diese Strukturen tief in den Alltag, in die Wissenschaft und in Denkweisen eingeschrieben sind, bedeutet antirassistisch zu handeln, aktiv Gelerntes zu verlernen, Rassismus zu erkennen und sichtbar zu machen. Seit der Erfindung dieser Ideologie kämpfen vor allem betroffene Menschen für ihre Abschaffung. Die Geschichte des Rassismus ist eine Geschichte des aktiven Widerstandes. Ein Grundgedanke postkolonialen Handelns ist es, rassistische Kontinuität zu erkennen, zu benennen, aufzuarbeiten und letztendlich zu überwinden. Ein Teil dieses Prozesses ist die Forderung nach einem verstärkten Bewusstsein über die koloniale Geschichte Deutschlands und deren Fortwirken bis in die Gegenwart. Denn bis heute werden BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) aus rassistischen Motiven benachteiligt, stereotypisiert, bedroht und ermordet. In Leipzig erinnert der Gedenkstein am Bahnhof an den 2010 ermorderten Kamal Kilade.


Straßenumbenennungen

Noch immer finden sich in vielen deutschen Städten Straßen oder Plätze, die nach Schlüsselfiguren des Kolonialismus benannt sind und zum Teil Menschen ehren, die in den Kolonien Menschenrechtsverbrechen begangen oder befohlen haben. Dies spiegelt Gewalt- und Machtstrukturen der Erinnerung und Entinnerung wider. Dekoloniale AktivistInnen setzen sich für die Sichtbarmachung von und für die kritische Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte in städtischen Räumen ein.

Ein prominentes Beispiel ist die Petersallee in Berlin. Benannt ist sie nach dem “Begründer” der ehemaligen Kolonie “Deutsch-Ostafrika” Carl Peters, der im heutigen Tansania bis heute als “mkono wa damu” (“die Bluthand”) bekannt ist und dessen Taten im Nationalsozialismus geehrt wurden. 1986 wurde die Petersallee zwar umgewidmet und soll nun an den NS-Widerständler Hans Peters erinnern, allerdings bleibt eine Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte und ihrem Fortwirken im öffentlichen Raum dadurch aus. Neben Umbenennungen fordern AktivistInnen auch die Kontextualisierung der Kolonialgeschichte und ihre Problematisierung in Form von Informationstafeln oder Gedenktafeln. 

Auch in Leipzig ehrt z.B. die Ernst-Hasse-Straße nach wie vor einen deutschen Hochschullehrer für Kolonialpolitik, der sich für völkisch-nationale und imperialistische Ziele einsetzte, die Errichtung eines “deutschen Weltstaates” forderte und als geistiger Wegbereiter des NS gilt. Auch dem Kolonialgeographen und Mitglied des Vorstandes der Leipziger Sektion der Deutschen Kolonialgesellschaft Friedrich Ratzel und dem Gründer des Leipziger Zoo und Organisator von “Völkerschauen” Ernst Pinkert sind in Leipzig Straßen gewidmet. Im Jahr 2020 fand in Leipzig, ausgelöst durch eine Bürger*innenanfrage im Stadtrat, eine Debatte über das rassistische Erbe Ernst Pinkerts statt. Zu einer Umbenennung kam es jedoch nicht.


Der deutsche Genozid an den Ovaherero und Nama

Zwischen 1904 und 1908 verübte die sogenannte Schutztruppe des Deutschen Kaiserreiches in der ehemaligen Kolonie “Deutsch-Südwestafrika”, dem heutige Namibia, einen Genozid an den OvaHerero und Nama, dem schätzungsweise 50.000 bis 70.000 Menschen zum Opfer fielen. Dieser auf Befehl des deutschen Generals Lotha von Trotha ausgeführte Vernichtungskrieg ist gemessen an den Kriterien der UN-Völkermordkonvention von 1948 als Genozid einzuordnen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Kaiserreichs jedoch bis heute, diese von deutschen Kolonialsoldaten verübten Massaker und die anschließende Internierung von Menschen in Konzentrationslagern nicht offiziell als Völkermord anerkannt (zur Diskussion). Die Nachfahren der Opfer des Genozids forden seit Jahrzehnten eine Anerkennung und Aufarbeitung dieser Verbechen. Seit 1990 sucht auch die namibische Regierung einen entsprechenden Dialog. Dabei geht es auch um die Forderung nach symbolischer und materieller Entschädigung (“restorative justice”). Die Verweigerung der Bundesregierung, den Genozid anzuerkennen, sich offiziell dafür zu entschuldigen und ihren Teil zu einer Wiedergutmachung beizutragen, verhöhnt die Opfer und stellt eine Kontinuität der verübten Gewalt dar.

Auch in Deutschland setzen sich seit einigen Jahren verschiedene Initiativen für die Aufarbeitung dieser geteilten Geschichte ein. 2011 gründete sich das Aktionsbündnis “Völkermord verjährt nicht!” in Vorbereitung der ersten Rückgabe menschlicher Gebeine aus Namibia. Diese wurden im Kontext des Genozids geraubt und für “Rasse-Forschung” nach Deutschland gebracht. Das Bündnis setzt sich gemeinsam mit den namibischen Aktivist*innen für Erinnerung, Anerkennung und Aufarbeitung ein. Ende 2019 waren mit Esther Muinjangue und Sima Luipert zwei Aktivist*innen in Leipzig zu Gast (zur Veranstaltung).


Institutionengeschichte

Universitäre Fakultäten und Institute, Museen und zoologische Gärten sind nur einige Beispiel für Institutionen, die in der Epoche des Kolonialismus entstanden sind. Sie wurden basierend auf einem System der Ausbeutung begründet und profitierten von diesem. Die kolonialen Spuren wirken sowohl strukturell als auch inhaltlich bis heute nach und müssen vielerorts noch offengelegt und aufgearbeitet werden. Erst ein Sichtbarmachen der kolonialen Wurzeln und Kontinuitäten dieser Institutionen ermöglicht eine kritische Auseinandersetzung und einen Bruch mit rassistischen Strukturen. Dies sollte insbesondere im Interesse universitärer und musealer Einrichtungen wie auch der zoologischen Gärten sein, die sich allesamt einem Bildungsauftrag verpflichtet haben.

Beispielsweise förderte das Ethnologische Institut der Universität Leipzig als erstes seiner Art im deutschsprachigen Raum bis in die 1930er Jahre Expeditionen, die durch scheinbar objektive Feldforschung in verschiedenen afrikanischen Ländern Stereotype produzierte und verbreitete. Im Auftrag des Ägyptischen Instituts wurden in zahlreichen Expeditionen Kunstobjekte für private und museale Sammlungen, wie das universitätseigene Ägyptische Museum, zusammengetragen. Auch das Grassi-Museum für Völkerkunde beruht auf einer Sammlung von Objekten aus fernen Ländern, bei denen einige mit Sicherheit als Raubgut zu behandeln sind. Trotz der aktiven Provenienzforschung des Hauses und vereinzelten Rückgaben an die Herkunftsgesellschaften werden Objekte immer noch ohne entsprechenden Kontext präsentiert. Während auch das Konzept von Zoologischen Gärten meist auf der Faszination mit dem ‘Exotischen’ basiert, haben diese sich insbesondere historisch an kolonialen und rassistischen Ausstellungen beteiligt, deren Nachwirkungen heute noch zu spüren sind. Der Zoo Leipzig veranstaltete ‘Völkerschauen’ und wirbt bis heute mit rassistischen Stereotypen für Veranstaltungen.

Die Vielzahl an Leipziger Institutionen, die ihre Wurzeln in der Kolonialzeit haben, zeigen, dass Wissen und Wissenschaft weder objektiv noch unpolitisch sind, sondern stets aus einer – in diesem Fall weißen und europäischen – Perspektive produziert und verbreitet werden. Unsere Geschichtsschreibung, die vor allem das weiße und männliche Europa in den Fokus rückt und damit Andere ausschließt, muss kritisch hinterfragt und aufgearbeitet werden.