Kolonialstein

Kolonialstein am Völkerschlachtdenkmal

In direkter Nachbarschaft zum Völkerschlachtdenkmal in Leipzig liegt, fast gänzlich von Gestrüpp überwuchert, ein unscheinbarer Findling. Den meisten der zahlreichen Besucher*innen dieses Gedächtnisortes, der an die berühmte Schlacht des Jahres 1813 erinnern soll, bleibt der Stein verborgen. Nichts deutet darauf hin, dass der 1,2 Meter hohe Findling einst ebenfalls als ein Denkmal aufgestellt worden war.

Der Kolonialstein (Foto: Leipzig Postkolonial)

Zwar wird er in der Liste der Kulturdenkmale des Landesamtes für Denkmalpflege Sachsen (ID-Nr. 09263841) aufgeführt, aber weder vor Ort noch in Reiseführern, Stadtbroschüren o. ä. finden sich Hinweise auf seine Funktion innerhalb der deutschen (Nach-)Kolonialgeschichte oder im Nationalsozialismus. Diese Nicht-Thematisierung bzw. dieses Vergessen des Leipziger Kolonialsteins ist eines von vielen Beispielen für den Umgang mit (post)kolonialen Spuren in deutschen Städten.

Noch während der deutschen Kolonialherrschaft (1884-1919) wurde 1909 in Leipzig die Errichtung eines großen Landes-Kolonial-Kriegerdenkmals für die in mehreren Kolonialkriegen gefallenen deutschen Soldaten geplant. Der Königlich-Sächsische Militärverein China- und Afrikakrieger erarbeitete einen Entwurf für ein etwa achteinhalb Meter hohes Ehrenmal.1 Derartige Kolonialkriegerdenkmäler waren im wilhelminischen Kaiserreich Teil der nationalen Repräsentation und sollten nicht nur an die Toten erinnern, sondern zugleich ein Bewusstsein für den Besitz der Kolonien in der Öffentlichkeit schaffen. Als der Erste Weltkrieg ausbrach, wurden die Planungen zum Leipziger Kolonial-Kriegerdenkmal nicht mehr umgesetzt. Fünf Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft (1924) errichtete der Schutztruppen- und Kolonial-Verein Leipzig dann den neu entworfenen Kolonialstein mit der Inschrift „Deutsche, Gedenkt Eurer Kolonien!“, obwohl – oder gerade weil – Deutschland mit dem Versailler Friedensvertrag von 1919 keinerlei Überseegebiete mehr besaß. Das Monument war nun nicht den gefallenen deutschen Soldaten gewidmet, sondern den verlorenen Kolonien. Ehemalige Schutztruppler und andere Kolonialrevisionisten nutzten fortan den Stein als Treffpunkt, um Deutschland als Kolonialmacht zu erinnern und ihren propagandistischen Bestrebungen zur Rückgewinnung der ehemaligen deutschen Territorien Ausdruck zu verleihen. Die Ambitionen, wieder Kolonialmacht zu werden, blieben bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs Teil des öffentlichen Diskurses. Für Leipzig zeugt davon eine Fotografie, die einen Aufmarsch von Kolonialrevisionisten zur Feier des 25-jährigen Bestehens des Schutztruppen- und Kolonial-Vereins Leipzig am 4. Dezember 1932 am Kolonialstein dokumentiert.

Aus der »Kolonialpost« 1933
Aus der »Kolonialpost« 1933, S. 18 (Quelle: Archiv der Leipziger Volkszeitung)

Zur Zeit der DDR wurde die mahnende Inschrift unkommentiert getilgt.2 Die stille Tilgung der Inschrift steht wiederum exemplarisch für den Umgang der DDR mit der kolonialen Geschichte und deren Hinterlassenschaften. Anders als in der Bundesrepublik Deutschland blieben die kolonialen Denkmäler und Straßennamen nicht einfach unkommentiert im Stadtbild erhalten, sondern wurden entfernt. Allerdings fand auch keine breite öffentliche Diskussion über die Denkmäler oder die koloniale Vergangenheit statt. Inwieweit diese Geschichtspolitik einer kritischen Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus dienlicher ist, als das einfache Totschweigen in der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit, lässt sich diskutieren.

Der Kolonialstein im Sommer 2020 (Foto: Leipzig Postkolonial)

Im Juli 2020 haben Aktivist*innen die Aufschrift „Deutsche erinnert eurer Kolonialverbrechen“ sowie rote Farbe am Kolonialstein angebracht.3


  1. Leipziger Zeitung, 28.4.1914
  2. Zeller, Joachim (2000): “A Colonial Monument?”, in: Jones, Adam (Hg.): Africa in Leipzig. A City Looks at a Continent 1730 – 1950, Leipzig: University of Leipzig Papers on Africa, S. 11.
  3. Leipziger-Internet-Zeitung “Misstraut den Denkmälern: Wer gab eigentlich die Genehmigung, den Findling an den Friedhofsweg zu setzen?”, 15.7.2020.